Merkel hat Gefahren für die Demokratie zu lange negiert

Merkel hat Gefahren für die Demokratie zu lange negiert
Die Hoffnungsträgerin der Demokraten hat negative Trends unterschätzt.

Angela Merkel wird in vielen Medien immer wieder als Vorkämpferin für Freiheit und Demokratie in der westlichen Welt präsentiert. Gerade der Fall Ungarn zeigt aber, dass die Erwartungen in sie nicht so hoch geschraubt werden sollten.

„Angela Merkel ist die letzte Verteidigerin des freien Westens“, „Merkel ist die Anführerin der freien Welt“, hieß es da etwa – und: Die deutsche Bundeskanzlerin sei gerade nach der Übernahme der US-Präsidentschaft durch Donald Trump die „Hoffnungsträgerin“ auf der internationalen politischen Bühne. Nur, entsprechen solche Schlagzeilen auch der Realität?

Die innere Befindlichkeit der EU könnte kaum katastrophaler sein als zu Beginn dieses Jahres. An diversen Fronten hat die Desintegration des wohl erfolgreichsten Projekts der europäischen Geschichte eingesetzt: Im Westen mit dem bereits in Gang gesetzten Brexit, im Osten mit der Machtübernahme zahlreicher Demagogen und EU-Feinde.

Euroskeptizismus, Demokratiekrise und radikale Lösungsvorschläge sind EU-weit auf dem Vormarsch und bestimmen in immer mehr Mitgliedsländern die Politik. Ohne die Passivität der deutschen Bundeskanzlerin wäre eine dermaßen demokratieschädliche Entwicklung innerhalb der EU aber wohl kaum möglich gewesen.

Ignorierter Flächenbrand

Lange Zeit hat Merkel die Symptome des Flächenbrandes in der EU ignoriert. Dieser ist in erheblichem Maße durch den systematischen Abbau demokratischer Strukturen in Ungarn angefacht worden.

Die willkürliche Verfassungsverabschiedung, die Abschaffung der checks and balances, die Aushebelung demokratischer Institutionen, die De-facto-Gleichschaltung der Medien, die Propagierung des Illiberalismus und die Drangsalierung von NGOs seitens der Orbán-Regierung sind von Berlin stets mit leiser Kritik, jedoch ohne ernsthafte Konsequenzen zur Kenntnis genommen worden. Merkel hat es jahrelang versäumt, ihre Autorität für das Wohl der Demokratie in die Waagschale zu werfen.

Das „Jahr der Rebellion“?

Die Politik der Bundeskanzlerin, die Interessen der EVP über jene der EU zu stellen und ihre politische Fehlkalkulation, dass Orbáns „Kabinenrevolution“ eingehegt werden könne, haben sich bitter gerächt: Die rechtsnationale Politik und der autoritäre Führungsstil des ungarischen Regierungschefs konnten nicht an Ungarns Grenzen aufgehalten werden. Die Ideologie des von Orbán fleißig gepredigten Illiberalismus hat bereits Polen angesteckt und ist gerade dabei, die polnische Demokratie von innen zu zersetzen.

„2017 wird das Jahr der Rebellion. Eine Revolte gegen die politische Korrektheit“, prophezeite Orbán nach Donald Trumps Wahlsieg. Der ungarische Premier macht schon lange keinen Hehl mehr daraus, dass er seine Ideologie auch in andere EU-Mitgliedstaaten exportieren will.

Demnächst stehen Frankreich und die Niederlande im Fadenkreuz. Mit dem Amtsantritt des neuen US-Präsidenten – dem der mögliche Zerfall der EU „gleichgültig“ ist – könnte Orbáns Politik auch aus Washington Rückendeckung bekommen.

Merkel hat sich verkalkuliert. Sie hat die Gefahren für die Demokratie in der EU unterschätzt, Partikularinteressen über jene der europäischen Gemeinschaft gestellt. Mit einer unüberlegten Flüchtlingspolitik hat sie den nationalistisch-populistischen Kräften weitere Munition geliefert. Mit ihr als Hoffnungsträgerin für Demokratie und Freiheit sollte Europa nicht aufs Beste hoffen, sondern aufs Schlimmste vorbereitet sein.

("Die Presse", 06.02.2017)

Foto: DPA