Orbáns Traum von einem Potemkin-Ungarn

Orbáns Traum von einem Potemkin-Ungarn
Mit der Einstellung der Tageszeitung "Népszabadság" bekommt der 60. Jahrestag der ungarischen 1956er-Revolution besondere Brisanz


"Es war höchste Zeit, dass 'Népszabadság' zusperrt": So reagierte Szilárd Németh, stellvertretender Vorsitzender der ungarischen Regierungspartei Fidesz, auf die plötzliche Schließung der seit 1956 erschienenen Tageszeitung. Der Fidesz-Vize fasste kurz und bündig zusammen, was Ungarns Regierung von der Meinungs- und Pressefreiheit hält: nämlich kaum etwas. Die von Viktor Orbán angeführte Exekutive versucht immer mehr kritische Plattformen systematisch zu unterdrücken und ein Land ohne jegliche Kritik zu errichten.

Um einen "kritiklosen" Staat zu errichten, muss man innerhalb der Europäischen Union wesentlich dezenter vorgehen als außerhalb ihrer Grenzen. Während in der Türkei des Recep Tayyip Erdoğan Polizeikommandos kritische Redaktionen stürmen, wird im Ungarn des Viktor Orbán die weitere Einschränkung der Pressefreiheit als eine rein privatwirtschaftliche Angelegenheit getarnt. Der "Népszabadság"-Besitzer Heinrich Pecina hat die Herausgabe der Zeitung eingestellt, weil "das Produkt die Menschen zunehmend nicht mehr interessiert hat", lautet die offizielle Erklärung.

Eine interessante Formulierung des österreichischen Eigentümervertreters Pecina, wenn man in Betracht zieht, dass "Népszabadság" seit Jahren die auflagenstärkste Qualitätszeitung im Land war. Ebenso wirft es Fragen auf, dass den Mitarbeitern der Zutritt zum Zeitungsgebäude und der Zugang zu den eigenen E-Mails verboten wurde. Weshalb ist der Zugriff auf das umfassende Online-Zeitungsarchiv seit der Einstellung nicht mehr möglich? Als ob es die Zeitung nie gegeben hätte.

Orbán will ein Potemkin-Land

"Népszabadság gehört uns", konstatierte Fidesz-Vize Gábor Kubatov bereits im August. Tatsächlich ist die Zeitung eine besondere Beute für die Regierungspartei, weil sie durch kritische Berichterstattung und Aufklärung von zahlreichen Korruptionsfällen der Orbán-Regierung ein paar bittere Momente beschert hat. Zwei Jahre nach der Causa Origo, in der der Chefredakteur des Internetportals origo.hu nach Veröffentlichung zahlreicher regierungskritischer Artikel entlassen wurde, ist nun eine weitere Säule der ungarischen Pressefreiheit gefallen.

Das Ziel der Regierung Orbán könnte nicht offensichtlicher sein: Die Öffentlichkeit soll nicht mehr kritische Fragen stellen, sie braucht aber von der unangenehmen Realität auch nichts zu erfahren. Es soll ein System entstehen, in dem es keinen offensichtlichen Widerstand gibt und alle mit dem Regierungswillen einverstanden sind. Eine Art Potemkin-Land, wie es für illiberale Demokratien charakteristisch ist.

Umfragen zeugen von Kritik

Jedoch sind die Ungarn selbst mit aktuellen Entwicklung kaum einverstanden. In der neuesten Umfrage des Publicus-Instituts sprechen sich 87 Prozent der befragten Ungarn für freie und unabhängige Medien aus. Gleichzeitig sind zwei Drittel der Ansicht, dass die Pressefreiheit im Land derzeit sehr oder teilweise eingeschränkt ist. Ähnlich düster sieht die Lage die NGO Reporter ohne Grenzen. In der Rangliste der Pressefreiheit ist Ungarn seit der Fidesz-Machtübernahme 2010 von Platz 23 auf 67 abgerutscht.

Die wenigen kritischen Medien, die bisher überlebt haben, stehen nach dem Fall "Népszabadság" vor einem moralischen Dilemma. Üben sie weiterhin Kritik an der Regierung und riskieren so die eigene Existenz? Darum rückt am Vorabend des 60. Jahrestags des Ungarn-Aufstands Punkt 12 des revolutionären 16-Punkte-Forderungsprogramms ins Zentrum, unter dem Studenten 1956 Meinungs-, Rede- und Pressefreiheit forderten. Folgt man den Meinungsforschern, denken Ungarns Bürger über die Notwendigkeit der Pressefreiheit heute wie 1956. Ob sie ihre Gedanken bald offen artikulieren, bleibt abzuwarten. (DER STANDARD, 20.10.2016)

(Foto: Reuters/László Balogh)

Mit der Einstellung der Tageszeitung "Népszabadság" bekommt der 60. Jahrestag der ungarischen 1956er-Revolution besondere Brisanz "Es war höchste Zeit, dass 'Népszabadság' zusperrt": So reagierte Szilárd Németh, stellvertretender Vorsitzender der ungarischen Regierungspartei Fidesz, auf die plötzliche Schließung der seit 1956 erschienenen Tageszeitung. Der Fidesz-Vize fasste kurz und bündig zusammen, was Ungarns Regierung von der Meinungs- und Pressefreiheit hält: nämlich kaum etwas. Die von Viktor Orbán angeführte Exekutive versucht immer mehr kritische Plattformen systematisch zu unterdrücken und ein Land ohne jegliche Kritik zu errichten. - derstandard.at/2000046201478/Orbans-Traum-von-einem-Potemkin-Ungarn