Wollen Sie, dass die Europäische Union auch ohne Konsultierung des Parlaments die Einwanderung nicht ungarischer Staatsbürger nach Ungarn vorschreibt?“ So lautet die Frage, die von den ungarischen Wählern am 2. Oktober beim Referendum über die Verteilung von Flüchtlingen innerhalb der Europäischen Union beantwortet werden soll. Am Ausgang der Abstimmung besteht kein Zweifel. Was jedoch die Regierung mit dem Urnengang bezwecken will, verdient es, etwas genauer unter die Lupe genommen zu werden.
Das angesetzte Referendum im Oktober ist kein Blitz aus heiterem Himmel. Denn die ungarische Exekutive hat schon längst entschieden, sich nicht am EU-Verteilungssystem für Flüchtlinge zu beteiligen. In diesem Sinn hat Ungarn gemeinsam mit der Slowakei beim Europäischen Gerichtshof eine Klage gegen die EU-Flüchtlingsverteilung eingereicht.
Das Anfang Juli von Staatspräsident János Áder angekündigte und auf den 2. Oktober angesetzte Referendum ist die nächste Stufe der bereits seit über einem Jahr auf Hochtouren laufenden Regierungskampagne, die gegen die EU und ihre Einwanderungspolitik wettert. Und jetzt sollen eben auch die Wähler auf konfrontative Regierungslinie einschwenken. Über acht Millionen Stimmberechtigte werden bereits seit Monaten landesweit von der Propagandaabteilung der Regierung auf Werbetafeln und in den Medien aufgerufen, „ein Signal nach Brüssel zu senden, damit sogar sie es verstehen“.
Botschaft wird ankommen
Dass die neueste Anti-EU-Botschaft aus Budapest in Brüssel tatsächlich ankommt, ist garantiert, zumal eine überwiegende Mehrheit der Ungarn – 77 Prozent laut einer Umfrage des Nézpont-Instituts – die Aufnahme von Flüchtlingen weitgehend ablehnt. Wegen der eindeutigen öffentlichen Meinung und des Referendumboykottaufrufs zahlreicher oppositioneller Parteien scheint einem Erdrutschsieg des Nein-Lagers nichts im Wege zu stehen.
Verunsichertes Brüssel
Was die Regierung nach erfolgreicher Abstimmung kommunizieren wird, ist auch schon absehbar – nämlich, dass sich die ungarischen Bürger dem Diktat der europäischen Institutionen eben nicht unterwerfen würden.
Für die vom Brexit paralysierte EU wäre ein solches „Signal zum Aufstand“ aus Budapest eine zusätzliche Belastung. Weitere Referenden in EU-Ländern könnten folgen. Das Quotenreferendum ist zwar offiziell keines über die EU-Mitgliedschaft, dennoch ist es ein Referendum über die Union.
Nach dem Brexit-Votum hätte die Orbán-Regierung das Quotenreferendum aus Rücksicht auf die Verunsicherung in den EU-Institutionen ja verschieben können. Doch das geschah nicht, ganz im Gegenteil. In dieser für die EU bitteren Zeit taten führende Regierungspolitiker rasch ihre „Privatmeinung“ der Öffentlichkeit kund. Demnach würden Kanzleiminister János Lázár und Regierungssprecher Zoltán Kovács im Fall eines Referendums über die weitere EU-Mitgliedschaft Ungarns für den Austritt votieren.
War das nur Zufall? Wohl kaum. Alle Indizien deuten darauf hin, dass die Entscheidung in Budapest gefallen ist: Auch Ungarn muss nicht um jeden Preis Mitglied der EU bleiben. Ein Austritt scheint realistischer, denn je – und die Zeit ist günstig. Zuerst wird die öffentliche Meinung eingestimmt, danach wird gehandelt.
Vor zwei Jahren sprach Premier Viktor Orbán über die Errichtung eines „illiberalen“ Staates. Mit Ungarns Austritt aus der EU wäre der Sprung dorthin vollgezogen.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.07.2016)