Budapest. Während in der EU derzeit die Flüchtlingsfrage und die politische Lage in Polen dominieren, steht Ungarn vor einer gravierenden Änderung des erst im Jahr 2012 in Kraft getretenen Grundgesetzes. Der Entwurf, öffentlich gemacht durch einen Politiker der rechtsradikalen Jobbik, sieht eine neue Kategorie besonderer Rechtsordnung mit Verfassungsrang vor, welche der Exekutive ohne jegliche Kontrollinstanz breite Befugnisse und drastische Maßnahmen gewährt. Die Abstimmung im Parlament ist für Mitte bis Ende Februar geplant, sagte ein Mitglied im parlamentarischen Ausschusses für Nationale Sicherheit zur "Wiener Zeitung".
Die geplante Verfassungsänderung verleiht der Regierung das Recht, im Fall von Terrorgefahr oder Terrorattacke den Terrornotstand für eine Zeitdauer von maximal 60 Tagen per Dekret auszurufen. Während des Terrornotstandes darf die Exekutive von bestimmten Gesetzen abweichen oder deren Anwendung suspendieren. Laut Entwurf verlieren die Verordnungen ihre Gültigkeit nach zwei Monaten, wenn sie vom Parlament weder bestätigt noch verlängert werden. Die geplante Verfassungsnovelle gibt der Regierung Kompetenzen, die schwächer ausfallen als während eines Ausnahmezustandes. Sie sind jedoch größer als während eines aufgrund von Naturkatastrophen ausgerufenen Notstandes. Trifft der Terrornotstand in Kraft, so hilft das Militär in Sicherheitsfragen die Arbeit der Polizei.
Kein Kontakt mit Ausländern
Mit der Reform wird die Regierung in vielen wichtigen Punkten ins Leben der Bürger und des Staates eingreifen können. Bei Terrorgefahr kann sie die Meinungsfreiheit, die Pressefreiheit und die Reisefreiheit ungarischer Staatsbürger einschränken, derer Kontaktpflege mit ausländischen Personen, Institutionen und Organisationen verbieten. Während des Terrornotstandes kann die Regierung das Internet abschalten, Radio- und TV-Sendungen begrenzen, Grenzen dichtmachen, Medien verstummen lassen, Ausgehverbote verhängen, Rationierungssystem einführen, Vermögen natürlicher und rechtlicher Personen einfrieren, ausländischen Bürgern die Einreise nach Ungarn einschränken oder verbieten. "Spezielle Antiterrormaßnahmen", die nicht näher definiert werden, können ebenfalls eingeführt werden.
Laut György Bakondi, Premierberater für innere Sicherheit, sei die Verfassungsänderung notwendig, "damit die Regierung in außerordentlichen Fällen im Interesse der Sicherheit der ungarischen Bürger schnelle Maßnahmen ergreifen kann". Ab wann genau über Terrorgefahr oder einen "außerordentlichen Fall" gesprochen werden kann, wird nicht konkretisiert.
"Im Hinblick auf die tatsächliche Situation, die ungarische Rechtsordnung und die europäischen Verpflichtungen ist der Entwurf unbegründet", betont Verfassungsrechtler György Kolláth, Dozent an der Budapester Eötvös-Lóránd-Universität. Laut ihm sei die Regierungsinitiative überflüssig und unverhältnismäßig. Die besondere Rechtsordnung gemäß dem ungarischen Grundgesetz besteht heute schon aus sechs Kategorien, "obwohl eine oder zwei genügen würden". Die siebte Kategorie, welche gerade entsteht, verstoße laut Kolláth gegen Artikel 15 der Europäischen Menschenrechtskonvention. Dieser sieht vor, dass Vertragsparteien "von den in der Konvention vorgesehenen Verpflichtungen abweichen" können, wenn "das Leben der Nation durch Krieg oder einen anderen öffentlichen Notstand bedroht" wird. Das Europarecht ermöglicht die Aussetzung der Anwendung der Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention im Notstandsfall. Dies sei unter Auflagen, nur begrenzt, temporär und bei durchgehender Pflicht zur Unterrichtung möglich. "Mit diesen steht das Regierungsmandat für den Fall einer Terrorgefahr nicht synchron", kritisiert der Verfassungsrechtler.
Jobbik unterstützt Orbán
Für eine Verfassungsänderung ist in Ungarn eine Zweidrittelmehrheit im Parlament vorgesehen. Obwohl Regierungspartei Fidesz seit letztem Jahr über die Verfassungsmehrheit in der Legislative nicht mehr verfügt, gilt die Änderung des Grundgesetzes als sicher. Jobbik könnte Fidesz die fehlenden Stimmen liefern. Sie hat bereits ihre Unterstützung für den Entwurf erklärt.
"Der Regierungsentwurf würde das Land für 60 Tage zum Kriegsgebiet erklären", sagt der sozialistische Politiker Zsolt Molnár. Der Vorsitzende des Ausschusses für Nationale Sicherheit bezeichnet die Verfassungsänderung als "inakzeptabel, die ausschließlich den Machtzielen der Regierung dient". Seine Partei MSZP unterstütze zwar eine Verfassungsänderung, weil die gegenwärtige Regulierung nicht eindeutig sei. "Diese soll aber die Rechtsstaatlichkeit und Freiheitsrechte respektieren." Laut Verfassungsrechtler Kolláth kämen als wirksames Gegengewicht alleine die EU und die Nato in Frage. "Zögerliche, freundliche Signale wären zu wenig", gibt er zu. "Das wird in Ungarn missbraucht." („Wiener Zeitung”, Print-Version, 22.1.2016)
Foto: Balazs Csekö