Öncüpinar – Ein Mann mit blauer Winterjacke und grüner Haube kaut an seinen Sonnenblumenkernen, vor ihm drei Kartonschachteln mit Keksen, Schokolade und Zigaretten. Neben ihm sind weitere Stände, an denen man Kaffee, Tee und Knabbereien zu niedrigen Preisen kaufen kann. Viel Kundschaft haben die Männer derzeit nicht. Der Grenzübergang zwischen der Türkei und Syrien ist seit einiger Zeit geschlossen.
Am Dienstag sieht man in Öncüpinar vor allem Lkws, die eine Kolonne vor den Grenzwächterposten bilden. Die Lastwagen werden gründlich von bewaffneten Polizisten durchsucht, registriert und über die Grenze gelassen. Gleichzeitig beeilen sich einige mehrköpfige Familien Richtung Grenzübergang. Mit mehrseitigen Dokumenten in der Hand werden Mütter und ihre Kinder von Grenzpolizisten kontrolliert und dürfen dann die Türkei verlassen.
Katastrophale Zustände
Auf der anderen Seite der Grenze warten, je nach Quelle, zwischen 35.000 und 50.000 Personen auf den Einlass in die Türkei. Einreisen darf derzeit niemand. Nur bei Verletzten und Kranken wird eine Ausnahme gemacht. Die anderen müssen vor der syrisch-türkischen Grenze ausharren. Die Lage vor Ort wird als menschenunwürdig und katastrophal beschrieben. So erzählen es Journalisten, die ein paar Tage davor noch auf die andere Seite reisen durften. Hilfsorganisationen berichteten am Dienstag von ganzen Familien, die auf der Straße schliefen.
Die Uno forderte die Türkei auf, die Schutzsuchenden ins Land zu lassen. "Es gibt nicht mehr genug Platz für die Familien", sagte Ahmad al-Mohammed von der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen. Viele Menschen schliefen unter freiem Himmel und hätten nur das bei sich, was sie in Eile auf die Flucht mitnehmen konnten. Wegen der Kälte und der überfüllten Lager gebe es zahlreiche Durchfallerkrankungen. Teilweise schliefen 20 Menschen in Sieben-Mann-Zelten.
Türkische Camps in Syrien
Acht Flüchtlingscamps baut die Türkei derzeit auf der anderen Seite der Grenze, auf syrischem Boden. Warum die Türkei die Lager nicht auf dem eigenen Territorium errichtet, hänge mit der potenziellen Terrorismusgefahr zusammen, erklärt jedenfalls ein Mitarbeiter der türkischen Flüchtlingsorganisation Kimse Yok Mu. Der bekannte türkische Journalist und Fotograf Kemal Vural sieht die Sache sehr ähnlich. "Gaziantep (türkische Grenzstadt Anm.) gilt heute schon als logistisches Zentrum für diverse islamistische Gruppierungen wie den "Islamischen Staat", Al-Kaida und die Al-Nusra-Front." Die Türkei wolle es vermeiden, weitere Extremisten ins Land zu lassen, so der Flüchtlingsaktivist.
Syrische Flüchtlingskinder, die in Begleitung ihrer Väter aus der nahegelegenen türkischen Stadt Kilis zum Grenzübergang gekommen sind, langweilen sich sichtlich und versuchen mit Journalisten ins Gespräch zu kommen. Ihre Väter brauchen ihre Hilfe ohnehin nicht, kaum jemand kauft heute Süßigkeiten und Sonnenblumenkerne. Weder die Verkäufer noch die Journalisten haben derzeit viel zu tun, aber alle sind in Bereitschaft, denn die türkischen Behörden könnten jederzeit den Grenzübergang für die Syrien-Flüchtlinge öffnen. ("Der Standard", 10.2. 2016 - mit Siniša Puktalović)
Foto: Balazs Csekö