Kilis. Zwischen riesigen Pistazienfeldern und tausenden Olivenbäumen, die aus der für diese Gegend so typischen roten Erde emporwachsen, führt die Schnellstraße von Gaziantep südlich in Richtung Syrien. Die überdimensionale türkische Flagge an der Spitze eines Hügels wurde gerade vom Wind erfasst. Zwischen der südtürkischen Millionenmetropole und der knapp 100.000 Einwohner zählenden Stadt Kilis gibt es derzeit kaum nach Verkehr.
Auf einem Verkehrsschild wird Aleppo angezeigt. Die umkämpfte Stadt ist nicht einmal 100 Kilometer entfernt. Dementsprechend scharf sind auch die Sicherheitsvorkehrungen entlang der gesamten Strecke. Immer wieder kontrollieren schwerbewaffnete Soldaten und vermummte Polizisten gemeinsam die Fahrzeuge.
Am Grenzübergang Öncüpinar häufen sich dann Kamerateams und Satellitenübertragungswagen und zwischen den aus diversen Ländern angereisten Journalisten laufen kleine syrische Buben herum. Ihre Väter haben kleine provisorische Stände errichtet, wo sie Knabbereien, Kaffee und Tee zu günstigen Preisen verkaufen, die Flüchtlingskinder vertreiben sich inzwischen die Zeit damit, mit den Journalisten ins Gespräch zu kommen. Zwei Jahre sei er schon in der Türkei, erklärt der zehnjährige Ahmed unter Zuhilfenahme seiner Hände. Anschließend wiederholt er es mehrmals auf Englisch: "Two, two".
Unter freiem Himmel
Was Ahmed und seine Familie schon geschafft haben, liegt für die meisten Menschen auf der unmittelbar anderen Seite der Grenze derzeit noch in weiter Ferne. Je nach Quelle warten seit Tagen zwischen 30.000 und 50.000 Menschen in der Nähe der syrischen Grenzstadt Azaz darauf, dass ihnen die Türkei doch noch Einlass gewährt.
Der Großteil der Flüchtlinge hatte sich auf den Weg gemacht, nachdem es der syrischen Armee mit Hilfe von russischen Jagdbombern gelungen war, einen der letzten Nachschubwege für die noch von Rebellen besetzten Teile Aleppos zu kappen. Nun harren die meisten Menschen unter freiem Himmel in Sichtweite der türkischen Grenze aus, die Familien versuchen unter Bäumen Schutz vor Wind und Wetter zu finden. Sie wickeln ihre Kinder in Decken ein, damit zumindest sie es warm haben. "Die Menschen haben nur die Kleider, die sie am Leib tragen", beschreibt ein Flüchtling die Lage. "Viele haben nicht einmal Taschen. Sie sind nur mit dem weggelaufen, was sie haben."
Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hat zwar signalisiert, dass sein Land die Flüchtlinge nicht ihrem Schicksal überlassen wird. Doch bisher dürfen nur Verletzte sporadisch über die Grenze. Wann und in welchem Umfang auch die anderen Gestrandeten einreisen dürfen, ist derzeit völlig unklar.
Angst vor dem IS
Ein Mitarbeiter der türkischen Flüchtlingsorganisation Kimse Yok Mu, der anonym bleiben möchte, vermutet hinter dieser Haltung die Angst, islamistische Terroristen könnten sich unter den Flüchtlingen befinden. Deswegen werden, seiner Meinung nach, auch derzeit acht Flüchtlingscamps von der Türkei auf syrischem Boden entlang der Grenze gebaut. In den von der türkischen IHH, einer islamischen Organisation für Menschenrechte und humanitäre Hilfe, verwalteten Camps sollen Flüchtlinge auf eine Verbindung zum sogenannten Islamischen Staat (IS) hin überprüft werden.
Eine ähnliche Meinung vertritt auch der im nahen Gaziantep lebende Journalist Kemal Vural. "Gaziantep gilt heute schon als logistisches Zentrum für diverse islamistische Gruppierungen wie die IS, Al-Kaida und die Al-Nusra-Front", sagt er. Die Türkei wolle daher vermeiden, weitere Extremisten ins Land zu lassen.
Am Grenzübergang in Öncüpinar ist gerade die Sonne herausgekommen und irgendwie wirkt all das fast schon unwirklich weit weg. Gegen 15 Uhr fährt ein Polizeiwagen mit eingeschalteten Blaulicht und Sirene vor. Durch die Lautsprecher wird bekanntgegeben, so übersetzen es türkische Kollegen, dass Journalisten den Platz verlassen müssen. Bei frühlingshaften 13 Grad beginnt sich der Grenzübergang zu lichten, die meisten Berichterstatter machen sich auf den Weg.
Auch auf der syrischen Seite werden sich in dieser Nacht wieder viele auf den Weg machen und versuchen, durch den Stacheldrahtzaun zu schlüpfen. Ihre Erfolgschancen sind aber mehr als ungewiss. Zuletzt waren die türkischen Grenzbeamten immer rasch zur Stelle gewesen. ("Wiener Zeitung", Print-Version, 9.2. 2016 - mit Siniša Puktalović)
Foto: Balazs Csekö