Terrornotstand

Terrornotstand
Ungarns Regierung will eine neue Kategorie besonderer Rechtsordnung in der Verfassung verankern

 

Während die Europäische Union hauptsächlich mit der Flüchtlingsfrage und neulich der Polen-Krise beschäftigt ist, wird bald im ungarischen Parlament über die sechste Änderung des im Jahr 2012 in Kraft getretenen Grundgesetzes abgestimmt. Die geplante Verfassungsänderung gewährt der Exekutive – im Falle von einer Terrorgefahr – breite Befugnisse und außergewöhnliche Maßnahmen. Mit ihr wird eine neue Kategorie innerhalb der Rechtsordnung etabliert. Von Oppositionellen und Experten wird der Schritt mit Skepsis beobachtet.

Mit der Verfassungsänderung wird sich die Regierung in vielen wichtigen Punkten ins Leben der Bürger und des Staates einmischen können. Sie wird ohne jegliche Kontrollinstanz das Budget umschreiben, Grenzen schließen, Medien verstummen lassen, Ausländer kontrollieren, Ausgehverbot verhängen und das Rationierungssystem einführen können.

Seit Monaten läuft in Ungarn eine staatlich finanzierte Anti-Flüchtlingskampagne. Ein wichtiger Teil davon sind TV-, und Radiowerbungen, welche die Bürger des Landes auf die „Terrorgefahr“ aufmerksam machen. „Wegen keinerlei Ideologie oder Wirtschaftsinteressen können wir die europäischen Bürger in Lebensgefahr bringen“, klingen die Worte des ungarischen Premiers Orbán.

Damit die Verfassungsänderung durchs Parlament gepeitscht wird, braucht die Regierung in der Legislative eine Zweidrittelmehrheit. Regierungspartei Fidesz verfügt seit letztem Jahr über die Verfassungsmehrheit nicht mehr, trotzdem gilt die Änderung des Grundgesetzes als sicher. Erste Signale hat bereits die rechtsradikale Jobbik gegeben für die Verfassungsänderung zu stimmen. Mit einer Jobbik-Unterstützung hätte die Regierung im Falle von einer „Terrorgefahr“ freie Hand in mehr als zwei Dutzend verschiedenen Punkten.

Das geplante Paket gibt der Regierung während des „Terrornotstandes“ Kompetenzen, die schwächer ausfallen als während eines Ausnahmezustandes, jedoch größer sind, als während eines aufgrund von Naturkatastrophen ausgerufenen Notstandes. Die Änderung ermöglicht der Regierung das Vermögen von Personen und Organisation einzufrieren, welche die Sicherheit des Landes gefährden, Importe einzuschränken, öffentliche Beschaffungen umzugehen. Durch sie ist ebenso möglich Treibstoff und Brot erst über ein Rationierungssystem zu beziehen.

Kritiker heben hervor, dass die geplante Verfassungsänderung der Regierung während eines Terrornotstandes einen „Blankoscheck“ gibt. Dadurch, dass genaue Definitionen wichtiger Begriffe fehlen (spezielle Antiterrormaßnahmen), wird der Exekutive ein enormer Interpretationsraum zugelassen. Andere sprechen über eine Art „Quasi-Ausnahmezustand“ ohne jegliche Kontrollinstanz, welcher die Möglichkeit des Missbrauches alleine von der Genügsamkeit der Regierung abhängig macht. Die anderen Parteien der parlamentarischen Opposition (MSZP, DK, LMP) sprechen sich vehement gegen die Verfassungsänderung aus.

Die Regierung kann während eines „Terrornotstandes“ u.a.:

  • Öffentlich-rechtlichen Medien dazu verpflichten, offizielle Stellungnahmen zu veröffentlichen
  • festlegen, welche Produkte, Energieträger, Konsumprodukte für die Landesverteidigung von Bedeutung sind und deren Verkehr regulieren, bzw. einschränken
  • Tätigkeiten der Radio-, und TV-Sender einschränken
  • Flugverkehr einschränken
  • Vermögen und Beteiligungen der die Landessicherheit gefährdenden Staaten, natürlichen und rechtlichen Personen, bzw. Organisationen einschränken und einfrieren
  • Exportverbot, Einführung von Handelsquoten, Aussetzen von öffentlichen Beschaffungen anordnen
  • Spezielle Antiterrormaßnahmen einführen
  • Internationale Vorschriften und Abkommen außer Acht lassend Bestimmungen für den Grenzverkehr verschärfen
  • Verschärfte Kontrolle des Internet-, Brief-, Paket-, und Postverkehrs anordnen
  • Aufenthalt in bestimmten Gebieten einschränken, oder von einer Genehmigung abhängig machen
  • Durch eine Bestimmung der betroffenen Ortschaft und genauer Zeitdauer Ausgehverbot verhängen
  • Massenveranstaltungen und Sammlungen im öffentlichen Raum verbieten
  • Anlagen und Einrichtungen von Radio-, TV-Sendern und anderen Institutionen der Massenkommunikation in Anspruch nehmen und deren Benutzung verbieten
  • Elektronische Nachrichtenservices und Services der Post einschränken, kontrollieren und verbieten
  • Telekommunikations-, und Informationsnetzwerke in Anspruch nehmen und deren Nutzung verbieten
  • Einreise ausländischer Staatsbürger in Ungarn einschränken oder verbieten
  • Kontakt und Kontaktpflege mit ausländischen Personen, Organisationen und Institutionen einschränken und verbieten
  • Ungarn-Aufenthalt nicht ungarischer Staatsbürger einschränken und ihnen Meldepflicht vorschreiben
  • In einem bestimmten Gebiet für eine bestimmte Zeit die Aussiedlung der Bevölkerung an einen anderen Ort anordnen

Stufen besonderer Rechtsordnung laut Grundgesetz vor der Verfassungsänderung:

  1. Ausnahmezustand
  2. Notstand
  3. Präventiver Verteidigungszustand
  4. Unerwartete Attacke
  5. Notfall

Foto: egyenlito.blog.hu