Bei strahlendem Sonnenschein rennen dutzende Schüler der ersten Klasse zwischen Fußgängern an der Place Communale hinauf und hinunter. Zwei Mädchen mit gelben Warnwesten bleiben vor einer älteren Dame mit Brille stehen. "Dürfen wir Ihnen diese Karte geben?", fragt die siebenjährige Fatima und überreicht einen Bleistift, den sie gerade aus einem Sackerl genommen hat. Julie, eine belgische Pensionistin, soll ihren Weihnachtswunsch auf das weiße Papier schreiben. Die Karte mit dem Wunsch soll bald an dem Weihnachtsbaum hängen, der gerade neben dem Eingang des Rathauses aufgestellt wird.
"Wir brauchen Frieden"
Ohne zu zögern nimmt Julie die Karte zur Hand und schreibt "Paix" darauf. Frieden soll herrschen. "Vor allem hier brauchen wir ihn", fügt die leicht geschminkte Frau hinzu. Ihre knappen Worte wiegen schwer, ihre Kritik an Molenbeek ist spürbar. Molenbeek unterscheidet sich wesentlich vom Bürokratenareal der EU-Hauptstadt. Auf den Straßen des Einwandererviertels wechseln sich Halal-Metzgereien, Burka-Geschäfte und zahlreiche orientalische Märkte mit Kisten voller Orangen ab. Die Diplomatenkonvois fahren hier nicht durch, trotz der geografischen Nähe. Sieben U-Bahn-Stationen ist Molenbeek von der Europäischen Kommission entfernt, nur durch den Charleroi-Kanal von den gotischen und barocken Gebäuden der Innenstadt abgeschnitten.
Jihadisten-Zentrum
Julies und Fatimas Viertel ist seit den Pariser Anschlägen ins Zentrum internationaler Aufmerksamkeit gerückt. Molenbeek gilt als Jihadisten-Zentrum Europas. Einen Monat nach den jüngsten Attacken in Paris und den darauffolgenden Großrazzien ist es in dem Stadtteil bemerkenswert ruhig. Einzige Ausnahme sind die Kamerateams, die sich um ein graues Gebäude an der südlichen Ecke der Place Communale drängen. Das Haus steht direkt gegenüber dem Rathaus. Auf der Fensterbank über der hölzernen Eingangstür tanzen fünf Grablichter im Wind. Darunter, an der Klingel, ist der Name Abdeslam zu lesen. Hier wohnt Mohamed mit seinen Eltern und Schwestern. Die Abdeslams trauern. Seit vier Wochen sind Mohameds Brüder Brahim und Salah nicht mehr nach Hause gekommen. Brahim sprengte sich am 13. November beim Pariser Stade de France in die Luft. Salah ist inzwischen zur meistgesuchten Person des Kontinents geworden, er befindet sich vermutlich auf der Flucht. "Sie sind zutiefst betroffen", erzählt Ahmed, ein Bekannter der Familie, der in einem Geschäft in einer Nebenstraße Kinderkleidung verkauft. Die Radikalisierung der Brüder soll keiner gemerkt haben.
"Fast immer ist es Molenbeek"
Die Probleme der Brüsseler Gemeinde mit Jihadismus reichen weit zurück. Gemessen an der Einwohnerzahl weist kein anderer Staat Europas so viele islamistische Kämpfer auf wie Belgien. Hassan al-Haski, einer der Planer der Madrider Anschläge im Jahr 2004, wohnte ebenfalls eine Zeitlang in dem Bezirk. Dem mutmaßlichen Attentäter Mehdi Nemmouche, der den Anschlag auf das Jüdische Museum von Belgien Ende 2014 verübte, war Molenbeek ebenso bekannt: Nemmouche soll hier die Waffen gekauft haben. Genauso wie Amedy Coulibaly, der im Umfeld der "Charlie Hebdo"-Anschläge in einem koscheren Supermarkt vier Personen tötete. Ayoub el-Khazani, der beim Anschlag auf den Thalys-Zug 9364 von Passagieren überwältigt wurde, war öfter in Molenbeek gesehen worden. Abdelhamid Abaaoud, der bereits getötete Hauptplaner der Pariser Anschläge, ist in der Gemeinde aufgewachsen. "Fast immer gibt es eine Verbindung nach Molenbeek", räumte unlängst Belgiens Premier Charles Michel ein. Das soll ein Ende haben. Die Regierung verspricht, die islamistische Szene aufzuräumen.
Trotz des Alarmzustands der Stufe drei patrouillieren heute keine schwerbewaffneten Soldaten in Molenbeek. Sie wurden zum Flughafen und zu den wichtigen Regierungsgebäuden im Zentrum verlegt. Es gibt keine Ausgangssperre, die Schüler versammeln sich unter der fünf Meter hohen Tanne. Die ersten Fotos werden gemacht. "Unser Weihnachtsbaum ist ein Symbol des Friedens, wo Familien und Menschen verschiedener Nationalitäten, Religionen und Kulturen zusammenkommen können", erklärt Vizebürgermeisterin Annalisa Gadaleta. Nach dem "Pariser Schock" fordert die italienischstämmige Politikerin eine tiefgreifende Aufklärung der größten Sorge der 95.000-köpfigen Gemeinde: "Wir müssen mit allen Menschen darüber reden und gemeinsam eine Lösung finden." Die Normalität soll endlich nach Molenbeek zurückkehren. (Balazs Csekö aus Brüssel für DER STANDARD, 24.12.2015)
Hinweis im Sinne der redaktionellen Leitlinien: Die Reise nach Brüssel erfolgte auf Einladung des Europäischen Parlaments für das Presseseminar "Migration and asylum: a challenge for Europe". (Die Reportage basiert auf Beobachtungen vom 9. Dezember.)
dBei strahlendem Sonnenschein rennen dutzende Schüler der ersten Klasse zwischen Fußgängern an der Place Communale hinauf und hinunter. Zwei Mädchen mit gelben Warnwesten bleiben vor einer älteren Dame mit Brille stehen. "Dürfen wir Ihnen diese Karte geben?", fragt die siebenjährige Fatima und überreicht einen Bleistift, den sie gerade aus einem Sackerl genommen hat. Julie, eine belgische Pensionistin, soll ihren Weihnachtswunsch auf das weiße Papier schreiben. Die Karte mit dem Wunsch soll bald an dem Weihnachtsbaum hängen, der gerade neben dem Eingang des Rathauses aufgestellt wird. "Wir brauchen Frieden" Ohne zu zögern nimmt Julie die Karte zur Hand und schreibt "Paix" darauf. Frieden soll herrschen. "Vor allem hier brauchen wir ihn", fügt die leicht geschminkte Frau hinzu. Ihre knappen Worte wiegen schwer, ihre Kritik an Molenbeek ist spürbar. Molenbeek unterscheidet sich wesentlich vom Bürokratenareal der EU-Hauptstadt. Auf den Straßen des Einwandererviertels wechseln sich Halal-Metzgereien, Burka-Geschäfte und zahlreiche orientalische Märkte mit Kisten voller Orangen ab. Die Diplomatenkonvois fahren hier nicht durch, trotz der geografischen Nähe. Sieben U-Bahn-Stationen ist Molenbeek von der Europäischen Kommission entfernt, nur durch den Charleroi-Kanal von den gotischen und barocken Gebäuden der Innenstadt abgeschnitten. Jihadisten-Zentrum Julies und Fatimas Viertel ist seit den Pariser Anschlägen ins Zentrum internationaler Aufmerksamkeit gerückt. Molenbeek gilt als Jihadisten-Zentrum Europas. Einen Monat nach den jüngsten Attacken in Paris und den darauffolgenden Großrazzien ist es in dem Stadtteil bemerkenswert ruhig. Einzige Ausnahme sind die Kamerateams, die sich um ein graues Gebäude an der südlichen Ecke der Place Communale drängen. Das Haus steht direkt gegenüber dem Rathaus. Auf der Fensterbank über der hölzernen Eingangstür tanzen fünf Grablichter im Wind. Darunter, an der Klingel, ist der Name Abdeslam zu lesen. Hier wohnt Mohamed mit seinen Eltern und Schwestern. Die Abdeslams trauern. Seit vier Wochen sind Mohameds Brüder Brahim und Salah nicht mehr nach Hause gekommen. Brahim sprengte sich am 13. November beim Pariser Stade de France in die Luft. Salah ist inzwischen zur meistgesuchten Person des Kontinents geworden, er befindet sich vermutlich auf der Flucht. "Sie sind zutiefst betroffen", erzählt Ahmed, ein Bekannter der Familie, der in einem Geschäft in einer Nebenstraße Kinderkleidung verkauft. Die Radikalisierung der Brüder soll keiner gemerkt haben. "Fast immer ist es Molenbeek" Die Probleme der Brüsseler Gemeinde mit Jihadismus reichen weit zurück. Gemessen an der Einwohnerzahl weist kein anderer Staat Europas so viele islamistische Kämpfer auf wie Belgien. Hassan al-Haski, einer der Planer der Madrider Anschläge im Jahr 2004, wohnte ebenfalls eine Zeitlang in dem Bezirk. Dem mutmaßlichen Attentäter Mehdi Nemmouche, der den Anschlag auf das Jüdische Museum von Belgien Ende 2014 verübte, war Molenbeek ebenso bekannt: Nemmouche soll hier die Waffen gekauft haben. Genauso wie Amedy Coulibaly, der im Umfeld der "Charlie Hebdo"-Anschläge in einem koscheren Supermarkt vier Personen tötete. Ayoub el-Khazani, der beim Anschlag auf den Thalys-Zug 9364 von Passagieren überwältigt wurde, war öfter in Molenbeek gesehen worden. Abdelhamid Abaaoud, der bereits getötete Hauptplaner der Pariser Anschläge, ist in der Gemeinde aufgewachsen. "Fast immer gibt es eine Verbindung nach Molenbeek", räumte unlängst Belgiens Premier Charles Michel ein. Das soll ein Ende haben. Die Regierung verspricht, die islamistische Szene aufzuräumen. Trotz des Alarmzustands der Stufe drei patrouillieren heute keine schwerbewaffneten Soldaten in Molenbeek. Sie wurden zum Flughafen und zu den wichtigen Regierungsgebäuden im Zentrum verlegt. Es gibt keine Ausgangssperre, die Schüler versammeln sich unter der fünf Meter hohen Tanne. Die ersten Fotos werden gemacht. "Unser Weihnachtsbaum ist ein Symbol des Friedens, wo Familien und Menschen verschiedener Nationalitäten, Religionen und Kulturen zusammenkommen können", erklärt Vizebürgermeisterin Annalisa Gadaleta. Nach dem "Pariser Schock" fordert die italienischstämmige Politikerin eine tiefgreifende Aufklärung der größten Sorge der 95.000-köpfigen Gemeinde: "Wir müssen mit allen Menschen darüber reden und gemeinsam eine Lösung finden." Die Normalität soll endlich nach Molenbeek zurückkehren. (Balazs Csekö aus Brüssel, 14.12.2015) Hinweis im Sinne der redaktionellen Leitlinien: Die Reise nach Brüssel erfolgte auf Einladung des Europäischen Parlaments für das Presseseminar "Migration and asylum: a challenge for Europe". (Die Reportage basiert auf Beobachtungen vom 9. Dezember.) - derstandard.at/2000027479811/Molenbeek-auf-der-Suche-nach-Normalitaet